BGH, 30.11.2004 - VI ZR 365/03: Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB - Kind im Straßenverkehr
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte sich in einer Entscheidung vom 30.11.2004 mit verschiedenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Abwicklung eines Verkehrsunfalls zu befassen.
Im entschiedenen Fall handelte es sich um ein Verkehrsunfall vom 17.09.2002. Die damals neunjährige Beklagte fuhr mit ihren Spielkameraden mit Fahrrädern auf einem Parkplatz zwischen parkenden Fahrzeugen hindurch. Dabei verlor sie das Gleichgewicht, kippte mit ihrem Fahrrad um und stieß gegen den dort geparkten Pkw des Klägers.
(Symbolbild)
1. Zur Anwendung des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB
Nach § 828 Abs. 2 S. 1 BGB sind Minderjährige, die zwar das siebte, aber noch nicht das zehnte Lebensjahr vollendet haben, bei Haftungsfällen im (Straßen-)Verkehr privilegiert:
"(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich."
Die Vorschrift findet allerdings nach der Rechtsprechung des BGH nicht auf jeden Haftungsfall im (Straßen-)Verkehr Anwendung. Vielmehr sei sie nach dem gesetzgeberischen Zweck einschränkend auszulegen. Es müsse auf Seiten des Minderjährigen eine
"typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs vorliegen"
vorliegen:
"Da der Wortlaut des § 828 Abs. 2 BGB nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt, ist der in der Vorschrift zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers mit Hilfe der weiteren Auslegungskriterien zu ermitteln, wobei im vorliegenden Fall insbesondere die Gesetzesmaterialien von Bedeutung sind. Aus ihnen ergibt sich mit der erforderlichen Deutlichkeit, daß das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nur eingreift, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat." (BGH, S. 6)
Gerade im motorisierten Verkehr seien Kinder (bis zur Altersgrenze von zehn Jahren) durch die Schnelligkeit, Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse noch überfordert:
"[Der Gesetzgeber] wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z.B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, regelmäßig zum Tragen kommen (vgl. BT-Drucks. 14/7752, S. 26). Für eine solche Begrenzung sprach, daß sich Kinder im motorisierten Verkehr durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in einer besonderen Überforderungssituation befinden. Gerade in diesem Umfeld wirken sich die Entwicklungsdefizite von Kindern besonders gravierend aus." (BGH, S. 7)
Im entschiedenen Fall verneinte der BGH ausdrücklich eine derartige Überforderungssituation und damit ein Eingreifen der Haftungsprivilegierung des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB:
"Diese Grundsätze können im Streitfall jedoch nicht eingreifen, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts unter den Umständen des vorliegenden Falles das Schadensereignis nicht auf einer typischen Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs beruht, so daß das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht eine Freistellung der Beklagten von der Haftung verneint hat." (BGH, S. 10)
2. Zur "Bagatellschadensgrenze" bei der Beauftragung eines Gutachters
Der BGH legt zunächst dar, dass auch die Kosten der Beauftragung eines Gutachters zu den erstattungsfähigen Schadenskosten gehören,
"soweit die Begutachtung zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlich und zweckmäßig ist." (BGH, S. 11)
Die Frage der Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit ist aus der Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung des Gutachters zu beurteilen:
"Für die Frage der Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit einer solchen Begutachtung ist auf die Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen." (BGH, S. 11)
Die Darlegungs- und Beweislast hierfür liege beim Geschädigten.
Die Frage der - zum Zeitpunkt der Beauftrachtung des Gutachters noch unbekannten - Schadenshöhe sei alleine kein Kritierium für die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Begutachtung. Allerdings sei sie ein gewichtiges Indiz:
"Für die Frage, ob der Schädiger die Kosten eines Gutachtens zu ersetzen hat, ist entgegen der Auffassung der Revision nicht allein darauf abzustellen, ob die durch die Begutachtung ermittelte Schadenshöhe einen bestimmten Betrag überschreitet oder in einem bestimmten Verhältnis zu den Sachverständigenkosten steht, denn zum Zeitpunkt der Beauftragung des Gutachters ist dem Geschädigten diese Höhe gerade nicht bekannt. Allerdings kann der später ermittelte Schadensumfang im Rahmen tatrichterlicher Würdigung nach § 287 ZPO oft ein Gesichtspunkt für die Beurteilung sein, ob eine Begutachtung tatsächlich erforderlich war oder ob nicht möglicherweise andere, kostengünstigere Schätzungen - wie beispielsweise ein Kostenvoranschlag eines Reparaturbetriebs - ausgereicht hätten." (BGH, S. 12)
Soweit das Berufungsgericht im vorliegenden Fall (Gutachterkosten von 1.400 DM (715,81 €)) im Übrigen das Überschreiten einer etwaigen Bagatellgrenze bejaht habe, sei dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden:
"Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Beauftragung eines Sachverständigen sei erforderlich gewesen, weil der Schaden im Streitfall mehr als 1.400 DM (715,81 €) betragen habe und es sich deshalb nicht um einen Bagatellschaden gehandelt habe, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Betrag liegt in dem Bereich, in dem nach allgemeiner Meinung die Bagatellschadensgrenze anzusiedeln ist." (BGH, S. 12)
(Quelle: BGH, Urteil v. 30.11.2004, VI ZR 365/03)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))