BAG, 22.10.2015 - 8 AZR 384/14: Schwerbehinderter - Benachteiligung - Vorstellungsgespräch
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte sich am 22.10.2015 mit Fragen zur Benachteiligung eines Schwerbehinderten im Zusammenhang mit der unterbliebenen Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bei einer öffentlichen Arbeitgeberin zu befassen.
Der Stellenbewerber war schwerbehindert (GdB von mindestens 50)
Die Arbeitgeberin war eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Somit galt die Regelung des § 82 SGB IX (Hervorhebung nicht im Original):
"Die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber melden den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze (§ 73). Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Einer Integrationsvereinbarung nach § 83 bedarf es nicht, wenn für die Dienststellen dem § 83 entsprechende Regelungen bereits bestehen und durchgeführt werden."
Somit haben schwerbehinderte Bewerber einen Anspruch darauf, dass ein öffentlicher Arbeitgeber sie zwingend zu einem Vorstellungsgespräch einlädt, es sei denn, die fachliche Eignung fehlt offensichtlich.
(Symbolbild)
Selbst bei (bloß) zweifelhafter Eignung ist der schwerbehinderte Bewerber einzuladen:
"Bewirbt sich ein schwerbehinderter Mensch bei einem öffentlichen Arbeitgeber um eine zu besetzende Stelle, so hat dieser ihn nach § 82 Satz 2 SGB IX zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Nach § 82 Satz 3 SGB IX ist eine Einladung nur dann entbehrlich, wenn dem schwerbehinderten Menschen die fachliche Eignung offensichtlich fehlt (...). Damit muss der öffentliche Arbeitgeber einem sich bewerbenden schwerbehinderten Menschen die Chance eines Vorstellungsgesprächs auch dann gewähren, wenn dessen fachliche Eignung zwar zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist (...). Insoweit ist der schwerbehinderte Bewerber im Bewerbungsverfahren besser gestellt als nicht schwerbehinderte Konkurrenten." (Rdnr. 27)
Im vorliegenden Fall war keine Einladung erfolgt. Darin liegt die "Versagung einer Chance", was - regelmäßig - für die Annahme einer Benachteiligung ausreicht:
"Nach ständiger Rechtsprechung des Senats liegt eine Benachteiligung im Rahmen einer Auswahlentscheidung, insbesondere bei einer Einstellung oder Beförderung, bereits dann vor, wenn der Beschäftigte nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgeschieden wird. Die Benachteiligung liegt hier in der Versagung einer Chance (...). Nach § 7 Abs. 1 AGG darf ein vorzeitiger Ausschluss eines Bewerbers/einer Bewerberin aus dem Auswahlverfahren demnach nicht in einem (mit)ursächlichen Zusammenhang mit einem in § 1 AGG aufgeführten Grund stehen. Sind bereits die Chancen einer Bewerberin/eines Bewerbers durch ein diskriminierendes Verfahren beeinträchtigt worden, kommt es regelmäßig nicht mehr darauf an, ob eine nach § 1 AGG verbotene Anknüpfung bei der abschließenden Einstellungsentscheidung noch eine nachweisbare Rolle gespielt hat (...). Bewerber/innen haben vielmehr Anspruch auf ein diskriminierungsfreies Bewerbungs-/Stellenbesetzungsverfahren ...). Deshalb ist es auch ohne Bedeutung, ob es später im Zuge des Auswahlverfahrens tatsächlich zu einer Einstellung oder Beschäftigung kommt (...)." (Rdnr. 26)
"Die Verletzung der in § 82 Satz 2 SGB IX geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Diese Pflichtverletzung ist nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein (...)." (Rdnr. 35)
Ein Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG führt dann in Verbindung mit § 15 Abs. 2 AGG zu einem Entschädigungsanspruch. Allerdings muss der Entschädigungsberechtigte den Anspruch auch rechtzeitig geltend machen (§ 15 Abs. 4 AGG, § 61b Abs. 1 ArbGG), worüber die Parteien im vorliegenden Fall aber nicht stritten.
Die Arbeitgeberin hatte sich allerdings darauf berufen, dass dem Bewerber der besondere Schutz des § 82 S. 2 SGB IX nicht zukäme,
"da seinen Bewerbungsunterlagen ein Hinweis/Nachweis über eine vorliegende, festgestellte Schwerbehinderung mit einem GdB von mindestens 50 nicht zu entnehmen gewesen sei."
Der Bewerber hatte (nur) von seiner Schwerbehinderung geschrieben, ohne einen konkreten Grad der Behinderung (GdB) zu nennen.
Mehr sei aber auch vom Bewerber nicht zu verlangen, wie das BAG ausführte:
"Ein hinreichender Hinweis auf eine Schwerbehinderung liegt vor, wenn die Mitteilung in einer Weise in den Empfangsbereich des Arbeitgebers gelangt ist, die es diesem ermöglicht, die Schwerbehinderung des Bewerbers zur Kenntnis zu nehmen ...). Eine Information im Bewerbungsanschreiben (...) oder an gut erkennbarer Stelle im Lebenslauf (...) ist regelmäßig ausreichend (...). Unter Umständen kann auch eine rechtzeitige gesonderte Mitteilung genügen (...).
Zur Mitteilung der Schwerbehinderung eines Bewerbers/einer Bewerberin kann auch die „Vorlage“ des Schwerbehindertenausweises ausreichend sein (...); allerdings genügt es nicht, wenn eine Kopie des Schwerbehindertenausweises lediglich den Anlagen zur Bewerbung beigefügt wird (...), ohne dass im Anschreiben oder im Lebenslauf hierauf ausreichend hingewiesen wird." (Rdnrn. 31 und 32)
Und weiter:
"Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass es im Zusammenhang mit der Verpflichtung des öffentlichen Arbeitgebers aus § 82 SGB IX ausreicht, über das Vorliegen einer 'Schwerbehinderung' zu informieren und dass es nicht zusätzlich erforderlich ist, den GdB mitzuteilen." (Rdnr. 40)
Schließlich gab die Entscheidung dem BAG auch noch Gelegenheit - obwohl dies im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich war - auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, der häufig bei der Rechtsverteidigung gegen Entschädigungsklagen arbeitgeberseits eingewandt wird:
Vielfach machen Arbeitgeber geltend, dass eine Benachteiligung schon deshalb ausscheide, weil der Bewerber "objektiv ungeeignet" sei. Insofern war auch die bisherige Rechtsprechung diesem Einwand aufgeschlossen:
"Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats ist für eine Vergleichbarkeit die am Anforderungsprofil der ausgeschriebenen Stelle zu messende 'objektive Eignung' des Bewerbers erforderlich (...). Dies hat der Senat im Wesentlichen damit begründet, dass eine Benachteiligung nur angenommen werden könne, wenn eine Person, die an sich für die Tätigkeit geeignet sei, nicht ausgewählt oder nicht in Betracht gezogen worden sei. Könne hingegen auch ein objektiv ungeeigneter Bewerber immaterielle Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangen, stehe dies nicht im Einklang mit dem Schutzzweck des AGG, das nur vor ungerechtfertigter Benachteiligung schützen, nicht aber eine unredliche Gesinnung des (potentiellen) Arbeitgebers sanktionieren wolle." (Rdnr. 22)
Das BAG wies nun darauf hin, dass eine Fortführung dieser Rechtsprechung "zweifelhaft" sein könnte:
"Ob an dieser Rechtsprechung festgehalten werden kann, könnte ua. bereits deshalb zweifelhaft sein, weil § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG den Entschädigungsanspruch für Personen, die 'bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden' wären, nicht ausschließt, sondern lediglich der Höhe nach begrenzt. Zudem würde das Erfordernis der 'objektiven Eignung', da die Feststellung einer 'vergleichbaren Situation' nicht ohne Vergleichsbetrachtung auskommen kann, wohl eine parallele Überprüfung der 'objektiven Eignung' der eingeladenen Bewerber und Bewerberinnen nach sich ziehen müssen. Eine derartige Prüfung und Vergleichsbetrachtung findet jedoch möglicherweise weder in den Bestimmungen des AGG noch in den unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere denen der Richtlinie 2000/78/EG eine hinreichende Grundlage." (Rdnr. 23)
(Quelle: BAG, Urteil v. 22.10.2015, 8 AZR 384/14)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))