BAG, 18.07.2012 - 7 AZR 443/09: "Kettenbefristung" I: über 11 Jahre und 13 Verträge
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte sich am 18.07.2012 in zwei Verfahren zu Fragen der "Kettenbefristung" zu äußern. Beiden Verfahren ist gemeinsam, dass ihnen zeitlich die sog. Kücük-Entscheidung des EuGH, Urteil v. 26.01.2012, C-586/10 vorausgegangen war.
Beide Entscheidungen betreffen Arbeitsverhältnisse, in denen mehrfach hintereinander ("in Kette") befristete Verträge abgeschlossen worden:
BAG, Urteil v. 18.07.2012, 7 AZR 443/09
BAG, Urteil v. 18.07.2012, 7 AZR 783/10
An dieser Stelle wird die erste Entscheidung besprochen. Die andere Entscheidung befindet sich in einem separaten Beitrag.
Die Entscheidung 7 AZR 443/09 erging im Verfahren, welches zur Kücük-Entscheidung des EuGH geführt hatte:
(Symbolbild)
Es endete damit, dass der Rechtsstreit zur weiteren Entscheidung an das Berufungsgericht (Landesarbeitsgericht Köln)) zurückverwiesen wurde. denn:
"Das Landesarbeitsgericht hat es - wenngleich nach der bisherigen Senatsrechtsprechung konsequent - zu Unrecht unterlassen, die jedenfalls aus Gründen des Unionsrechts gebotene, nach deutschem Recht nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs vorzunehmende umfassende Missbrauchskontrolle durchzuführen. Im vorliegenden Streitfall sprechen Anzahl und Dauer der vorangegangenen befristeten Arbeitsverträge dafür, dass das beklagte Land die an sich eröffnete Möglichkeit der Vertretungsbefristung rechtsmissbräuchlich ausgenutzt hat." (Rdnr. 36)
Das BAG konnte also einen sog. "institutionellen Rechtsmissbrauch" nicht aussschließen.
In diesem Zusammenhang sind folgende Ausführungen von Interesse:
"Die nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs vorzunehmende Prüfung verlangt eine Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls" (Rdnr. 40)
Wann ein institutioneller Rechtsmissbrauch vorliegt, lässt sich nicht schematisch sagen. Als Anhaltspunkt mag dienen (Hervorhebung nicht im Original):
"Das Erfordernis, bei der Beurteilung der missbräuchlichen Ausnutzung der an sich aufgrund eines Sachgrunds eröffneten Befristungsmöglichkeit sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, ermöglicht weder eine abschließende Bezeichnung aller zu berücksichtigenden Umstände noch eine quantitative Angabe, wo die zeitlichen und/oder zahlenmäßigen Grenzen genau liegen, bei denen ein Missbrauch indiziert oder gar zwingend von einem solchen auszugehen ist. Zum derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung ist der Senat gehalten, Umstände zu benennen, die bei der Missbrauchsprüfung eine Rolle spielen können und in quantitativer Hinsicht eine grobe Orientierung zu geben. Er kann damit die Beurteilung vornehmen, dass jedenfalls im Streitfall bei einer Gesamtdauer von mehr als elf Jahren und 13 Befristungen eine missbräuchliche Gestaltung indiziert ist, während in der am selben Tag entschiedenen Sache - 7 AZR 783/10 - bei einer Gesamtdauer von sieben Jahren und neun Monaten und vier Befristungen Anhaltspunkte für einen Gestaltungsmissbrauch noch nicht vorliegen." (Rdnr. 43)
Und weiter:
"Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung eines möglichen Rechtsmissbrauchs sind die Gesamtdauer der befristeten Verträge sowie die Anzahl der Vertragsverlängerungen. Der Gerichtshof hat in der Vorabentscheidung die Bedeutung dieser beiden Faktoren besonders hervorgehoben" (Rdnr. 44)
"Von Bedeutung kann bei der Beurteilung ferner sein, ob der Arbeitnehmer stets auf demselben Arbeitsplatz mit denselben Aufgaben beschäftigt wird oder ob es sich um wechselnde, ganz unterschiedliche Aufgaben handelt." (Rdnr. 45)
"Zu berücksichtigen ist ferner die Laufzeit der einzelnen befristeten Verträge sowie die Frage, ob und in welchem Maße die vereinbarte Befristungsdauer zeitlich hinter dem zu erwartenden Vertretungsbedarf zurückbleibt." (Rdnr. 46)
Zusammenfassend:
"Die Gesamtdauer von mehr als elf Jahren und die Anzahl von 13 Befristungen sprechen vorliegend dafür, dass das beklagte Land die an sich eröffnete Möglichkeit der Vertretungsbefristung rechtsmissbräuchlich ausgenutzt hat." (Rdnr. 49)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))