BSG, 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R: Immer Ärger mit der AU-Bescheinigung: Hausarzt irrt sich
In den letzten Jahren waren unter dem Stichwort "Krankengeld-Falle" immer wieder Berichte in den Medien zu lesen, wonach Versicherte ihren Anspruch auf Krankengeld durch "zu spät" ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigung) verloren.
Dies galt maßgeblich für Fälle, in denen (erst) der Krankengeld-Bezug den fortwirkenden Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung bewirkte. Denn nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V bleibt die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung solange erhalten, solange ein Anspruch auf Krankengeld besteht:
§ 192 Abs. 1 Nr. 1 SGB V:
"(1) Die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger bleibt erhalten, solange
1. ...,
2. Anspruch auf Krankengeld oder Mutterschaftsgeld besteht oder eine dieser Leistungen oder nach gesetzlichen Vorschriften Erziehungsgeld oder Elterngeld bezogen oder Elternzeit in Anspruch genommen oder Pflegeunterstützungsgeld bezogen wird,
3. ..."
Während etwa ein (nicht nur geringfügig beschäftigter) Arbeitnehmer bei Fortbestand seines Beschäftigungsverhältnisses seine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung (und die damit im Zusammenhang stehenden Ansprüche gegen die Krankenkasse) grundsätzlich aufgrund dieses Beschäftigungsverhältnis bewirkt, konnte es insbesondere für manchen Langzeiterkrankten ganz anders aussehen:
Hatte dieser nämlich sein Beschäftigungsverhältnis bereits verloren - wurde ihm zum Beispiel aufgrund einer Erkrankung sein befristetes Arbeitsverhältnis nicht verlängert oder wurde ihm gar krankheitsbedingt gekündigt - so blieb die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung oft nur aufgrund der Regelung des § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V erhalten.
Kurz gesagt: Er konnte in einem solchen Fall zwar weiterhin Krankengeld beziehen, aber nur solange, solange er es auch - "lückenlos" - bezog. Riss der Krankengeld-Bezug auch nur für einen Tag ab, so war insoweit seine Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung und damit der weitere Krankengeldbezug beendet.
Es kommt also maßgeblich darauf an, dass sich Betroffene rechtzeitig krankschreiben lassen. Vielfach ist allerdings selbst unter Ärzten unbekannt, dass nach § 46 Abs. 1 Nr. 2 SGB V bei der Krankschreibung eines niedergelassenen Arztes der Anspruch auf Krankengeld erst am Folgetag entsteht:
"(1) Der Anspruch auf Krankengeld entsteht
1. bei Krankenhausbehandlung oder Behandlung in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung (§ 23 Abs. 4, §§ 24, 40 Abs. 2 und § 41) von ihrem Beginn an,
2. im Übrigen von dem Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an".
Erst mit WIrkung zum 23.07.2015 wurde die vorbezeichnete Bestimmung durch S. 2 etwas entschärft:
"Der Anspruch auf Krankengeld bleibt jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt; Samstage gelten insoweit nicht als Werktage."
Bis zum 22.07.2015 hing somit die Weitergewährung von Krankengeld davon ab, dass die ärztliche Folgebescheinigung spätestens am letzten Tag der laufenden Krankschreibung erfolgte - eine Regelung, die auch vielen Ärzten nicht bewusst war. Denn nach den "Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit ..." (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) war sogar eine rückwirkende Krankschreibung grundsätzlich nicht ausgeschlossen:
(Symbolbild)
In seinem Urteil vom 11.05.2017 hatte sich das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel nun mit einem Fall zu beschäftigen, in dem die erkrankte Krankengeldbezieherin noch am letzten Tag der laufenden Krankschreibung beim Hausarzt erschien, der allerdings meinte, die weitere Arbeitsunfähigkeit deshalb nicht bescheinigen zu müssen, weil die Patientin am nächsten Tage einen Termin beim Facharzt habe, bei dem dann auch (erwartungsgemäß) die weitere Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wurde.
Bereits in der vorangegangenen Rechtsprechung hatte das BSG anerkannt, dass in Fällen, in denen ein Arzt irrtümlich aus medizinischen Gründen eine Arbeitsunfähigkeit nicht bescheinigt, gleichwohl Krankengeld weiter zu gewähren ist. Denn dem Patienten könne die fehlerhafte ärztliche Beurteilung nicht angelastet werden, sofern er alles in seiner Macht stehende getan habe, um die rechtzeitige ärztliche Feststellung der in Wirklichkeit vorliegenden Arbeitsunfähigkeit zu ermöglichen.
Der vorliegende Fall unterschied sich nun allerdings dahingehend, dass der Arzt hier die Bescheinigung aufgrund nichtmedizinischer Gründe versagte.
Trotzdem behandelte das BSG auch den vorliegenden Fall zugunsten der Krankengeldbezieherin: Unter engen Voraussetzungen könne auch in einem solchen Fall die Krankenkasse zur Weitergewährung von Krankengeld verpflichtet sein. Schließlich treffe die Krankenkasse auch eine Mitwirkung für die Fassung der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Eine Versagung der Fortgewährung von Krankengeld durch die Krankenkasse sei treuwidrig.
Das BSG konnte somit - im vorliegenden Fall - zugunsten der Krankengeldbezieherin entscheiden.
Für alle Krankengeldbezieher gilt: Bei Fortbestand der Arbeitsunfähigkeit immer auf rechtzeitigen Arztbesuch achten!
(Quelle: BSG, Urteil v. 11.05.2017, B 3 KR 22/15 R; Pressemitteilung 21/2017 vom 11. Mai 2017)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldbrück-Bergshausen (LK Kassel))