BAG, 29.06.2017 - 2 AZR 302/16: Zum Begriff der sexuellen Belästigung im Sinne des AGG
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte sich in einem Urteil vom 29.06.2017 mit dem Begriff der sexuellen Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG zu befassen.
Diese Bestimmung lautet:
"(4) Eine sexuelle Belästigung ist eine Benachteiligung in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird."
(Symbolbild)
Im entschiedenen Fall ging es um die Kündigungsschutzklage eines seit Juni 1991 in einem Stahlwerk beschäftigten Arbeiters. Diesem wurde vorgeworfen, er hätte am 22.10.2014 einen Fremdfirmenmitarbeiter von hinten schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen und anschließend darüber Bemerkungen gemacht ("dicke Eier").
Der Kläger bestritt ein Fehlverhalten. Er habe nur unabsichtlich den Mitarbeiter der Fremdfirma am Hinterteil berührt.
Die beklagte Arbeitgeberin hörte unter anderem den Kläger zu den Vorwürfen an und kündigte ihm schließlich unter dem 07.11.2014 das Arbeitsverhältnis fristlos und unter dem 12.11.2014 vorsorglich ordentlich zum 30.06.2015.
Arbeitsgericht (ArbG Bremen-Bremerhaven) und Landesarbeitsgericht (LAG Bremen) entschieden unterschiedlich: Der Kläger hatte zumindest vor dem LAG Erfolg.
Auf (vom LAG zugelassene) Revision der Beklagten hob das BAG das Urteil auf und verwies die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück.
Von zentraler Bedeutung waren hierbei die Ausführungen des LAG zum Begriff der sexuellen Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG.
Das BAG weist ausdrücklich darauf hin, dass eine derartige sexuelle Belästigung gemäß § 7 Abs. 3 AGG zugleich eine Verletzung vertraglicher Pflichten darstellt:
§ 7 Abs. 3 AGG lautet:
"(3) Eine Benachteiligung nach Absatz 1 durch Arbeitgeber oder Beschäftigte ist eine Verletzung vertraglicher Pflichten."
Gemäß § 12 Abs. 3 AGG war die Beklagte als Arbeitgeberin verpflichtet, auch die Mitarbeiter der Fremdfirma (Leiharbeitnehmer) vor sexuellen Belästigungen zu schützen.
§ 12 Abs. 3 AGG lautet:
"(3) Verstoßen Beschäftigte gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1, so hat der Arbeitgeber die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung zu ergreifen."
Dabei kann bereits eine einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweise den Tatbestand des § 3 Abs. 4 AGG erfüllen.
Bei absichtlichen Berührungen der Geschlechtsmerkmale eines anderen bedarf es keiner besonderen sexuellen Motivation des Täters:
"Die absichtliche Berührung primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale eines anderen ist demnach bereits deshalb sexuell bestimmt iSd. § 3 Abs. 4 AGG, weil es sich um einen auf die körperliche Intimsphäre gerichteten Übergriff handelt (vgl. BAG 2. März 2017 - 2 AZR 698/15 - Rn. 36; 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 - Rn. 18, BAGE 150, 109). Bei anderen Handlungen, die nicht unmittelbar das Geschlechtliche im Menschen zum Gegenstand haben, wie bspw. Umarmungen, kann sich eine Sexualbezogenheit aufgrund einer mit ihnen verfolgten sexuellen Absicht ergeben (BAG 2. März 2017 - 2 AZR 698/15 - Rn. 36)." (Urteil, Rdnr. 18)
"Erforderlich ist auch nicht notwendig eine sexuelle Motivation des Täters. Eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist vielmehr häufig Ausdruck von Hierarchien und Machtausübung und weniger von sexuell bestimmter Lust (Köhler/Koops BB 2015, 2807, 2809)." (Urteil, Rdnr. 19)
Als Zwischenergebnis stellte das BAG fest, dass im vorliegenden Falle mit der sexuellen Belästigung eine Verhalten vorliegt, welches "an sich" geeignet ist, eine fristlose Kündigung zu begründen.
Gleichwohl bedürfe es bei jeder fristlosen Kündigung einer (abschließenden) Interessenabwägung. Dabei wäre zum Beispiel der Frage nachzugehen, ob es dem Arbeitgeber angesichts der Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar sein könnte, den Kläger noch bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zu beschäftigen:
"Dem steht zugunsten des Klägers eine Betriebszugehörigkeit von mehr als 23 Jahren gegenüber, die es ausnahmsweise als zumutbar erscheinen lassen könnte, ihn trotz seines schweren Fehlverhaltens zumindest noch für den Lauf der ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen. Es ist allerdings offen, ob dem Kläger eine in der Vergangenheit durchgehend störungsfreie Beschäftigung zugutegehalten werden kann." (BAG, Rdnr. 39)
(Quelle: BAG, Urteil v. 29.06.2017, 2 AZR 302/16)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))