AG Neunkirchen, 27.04.2016 - 19 OWi 234/15: Zur Verwertung einer Geschwindigkeitsmessung
Das Amtsgericht (AG) Neunkirchen hatte sich in einer ausführlichen Entscheidung vom 27.04.2016 mit der Verwertbarkeit einer Geschwindigkeitsmessung zu befassen.
Hintergrund des Falles bildete ein vermeintlicher Geschwindigkeitsverstoß vom 17.03.2015 im saarländischen Neunkirchen. Vorgeworfen wurde eine Überschreitung um 6 km/h.
Die Messung wurde mit dem Geschwindigkeitsmessgerät Traffistar S350 von Jenoptik durchgeführt. Die Auswertung der Messung und die Ermittlung des Fahrers erfolgte wie folgt:
"Sobald das Messgerät ca. 200 Messfotos aufgenommen hat, werden diese auf einen bei der Firma Jenoptik bereitgestellten Datenserver bereitgestellt. Die Zeugin … erhält dann eine E-Mail und lädt diese Datensätze vom Server herunter und überprüft diese mittels eines sog. Public Key, der allein der Stadt Neunkirchen zur Verfügung steht, auf ihre Authenzität. Dies wird im verwendeten Programm durch einen Signaturvermerk in Form eines Schlosssymbol angezeigt. Die Zeugin … schaut sich die Datensätze in Form eines Übersichtsfotos im Einzelnen nicht an, sondern versiegelt diese und schickt diese zur Aufbereitung an die Firma Jenoptik. Dort werden diese Bilder dergestalt bearbeitet, dass der Fahrer und Kennzeichen ausgeschnitten werden sowie der Geschwindigkeitswert, Tatort, Geschlecht des Fahrers, Kennzeichen aufgezeichnet wird. Die Daten sind ab diesem Zeitpunkt – ab Eingang bei Jenoptik – beliebig manipulierbar und können gezielt verändert werden. Diese bearbeiteten Bilder werden dann zurück an die Zeugin gesandt. Ein Signaturvermerk wie das Schlosssymbol, dass die Daten nicht verändert worden sind und die Authenzität nach wie vor gewährleistet ist, findet sich in diesem Stadium nicht mehr. Vielmehr muss die Zeugin die Daten durch einen Vergleich der bearbeiteten Bilder mit dem Ausgangsbild kontrollieren, indem sie die im Ausgangsfoto vorhandenen Daten wie Fahrerbild und Kennzeichen, sowie Geschwindigkeit abgleicht und entscheidet, ob das Verfahren eröffnet wird oder nicht, bzw. ob eine weitere Bearbeitung durch die Firma Jenoptik notwendig ist. In einigen Fällen ist eine derartige Überprüfung nur durch ein Aufhellen oder Abdunkeln des Ausgangsbildes möglich, da die Ausgangsfotos teilweise über- oder unterbelichtet sind und beispielsweise das Kennzeichen oder Fahrer im Ausgangsfoto nicht zu erkennen sind. Die Zeugin benötigt für eine Überprüfung nach eigener Auskunft ca. 2-3 Minuten und hat pro Tag ca. 200 Fälle zu überprüfen. Sie arbeitet täglich 8.25h und ist neben der Auswertung stationären Geschwindigkeitsüberwachung noch für die mobile Geschwindigkeitsüberwachung, den ruhenden Verkehrs und das Fundbüro in Neunkirchen zuständig.
Für jeden Fall, der ins Ordnungswidrigkeitenverfahren übergeben wird, erhält die Firma Jenoptik einen Betrag von 5,50 EUR."
Die Verteidigung widersprach der Verwertung des Messfotos.
Auch das Gericht sah die Fotos nicht als verwertbar an.
(Symbolbild)
Das Gericht stützte seine Auffassung im wesentlichen auf zwei Umstände:
Zum einen sah das Gericht den für den Messort einschlägigen saarländischen Erlass über die Wahrnehmung der Verkehrsüberwachung durch Ortspolizeibehörden gem. § 80 Abs. 4 SPolG in erheblicher Weise missachtet:
"Denn zum einen stellt das von der Stadt Neunkirchen in Kooperation mit der Firma Jenoptik verwendete Auswerteverfahren einen erheblichen Verstoß gegen den saarländischen Erlass über die Wahrnehmung der Verkehrsüberwachung durch Ortspolizeibehörden gem. § 80 Abs. 4 SPolG dar. Gemäß dem Erlass ist die Einbindung Privater in die Verkehrsüberwachung nur in sehr engen Grenzen gestattet. ..."
Dabei führe der Verstoß gegen den ministerialen Erlass nach Auffassung des auch zu einem Beweisverwertungsverbot:
"b)
Ob der Verstoß gegen einen ministerialen Erlass zu einem Beweisverwertungsverbot führt, ist in der Rechtsprechung umstritten.
aa)
Nach Auffassung des OLG Frankfurt ist ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen, wenn eine Behörde im Rahmen der Geschwindigkeitsüberwachung insbesondere im Rahmen der Auswertung von Messungen sehenden Auges gegen die Vorschriften eines ministerialen Erlasses verstößt (OLG Frankfurt NStZ 2003, 342, OLG Naumburg Beschluss vom 07.05.2012-2 Ss Bz 25/12).
bb)
Nach Auffassung des OLG Rostock führt der Verstoß gegen einen ministerialen Erlass gerade nicht zu einem Beweisverwertungsverbot, da ein solcher keine Außenwirkung für den Bürger hat und dieser sich gerade nicht darauf berufen kann (OLG Rostock, Beschluss vom 17.11.2015, Az. 21 Ss OWi 158/15).
cc)
Das Gericht schließt sich vorliegend der Auffassung des OLG Frankfurt und des OLG Naumburg an. Gemäß Art. 34 GG ist die Verkehrsüberwachung hoheitliche Aufgabe.
Durch den vorliegenden Erlass soll aber gerade sichergestellt werden, dass die Überwachung des Verkehrs hoheitliche Aufgabe bleibt und private Helfer nur in sehr engen Grenzen daran beteiligt werden können. Dies ist der vorrangige Sinn und Zweck des Erlasses. Nach Auffassung des Gerichts folgt dann aber aus dem Rechtsstaatsprinzip, dass der Bürger einen Anspruch darauf hat, dass die Ahndung und Ermittlung von Ordnungswidrigkeiten allein dem Staat obliegt und nicht komplett und in weiten Teilen auf Private übertragen werden kann. Dann aber kann sich der Bürger nach Auffassung des Gerichts auch auf einen Erlass berufen, der genau dies sicherstellen will. Nach Auffassung des Gerichts kann entgegen der Ansicht des OLG Rostock auch kein Vergleich mit gerichtlich eingeholten Gutachten, wie beispielsweise der Analyse von Blutproben zur Alkoholbestimmung gezogen werden. Denn einerseits werden Unternehmen, welche derartige Tätigkeiten im Ermittlungsverfahren übernehmen, unabhängig vom Erfolg der Tätigkeit bezahlt. Im hiesigen Fall aber wird die Firma Jenoptik gemäß dem zwischen ihr und der Stadt Neunkirchen geschlossenen Vertrag für Fälle, die ins Ordnungswidrigkeitenverfahren abgegeben werden, besonders vergütet, indem die Firma Jenoptik pro ins Ordnungswidrigkeitenverfahren abgegebenen Fall 5,50 EUR erhält.
..."
Zum anderen sieht das AG aber auch deshalb ein Beweisverwertungsgebot als gegeben, weil
"erhebliche Zeweifel daran [bestehen], dass im vorliegenden Fall überhaupt eine hoheitliche Messung bzw. Auswertung vorliegt. Denn letztlich ist nach Auffassung des Gerichts nicht mit der hinreichenden Sicherheit festzustellen, ob die Auswertung der Daten überhaupt noch hoheitlich erfolgt und die Messfotos im vorliegenden Fall unverändert sind.
..."
Der Betroffene war daher freizusprechen.
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))