BAG, 07.08.2012 - 9 AZR 353/10: Zum Verfall gesetzlicher Urlaubsansprüche bei Dauererkrankung
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte sich am 07.08.2012 mit der Frage zu befassen, wann bei Dauerkrankung gesetzliche Urlaubsansprüche verfallen. Es kam hierbei zu einem Übertragungszeitraum von 15 Monaten (d.h.: gesetzliche Übertragungsregelung (31.03.) + 12 Monate).
Um die Entscheidung des BAG richtig einzuordnen, ist zunächst ein kurzer rechtshistorischer Abriss vorzunehmen:
Das deutsche Urlaubsrecht kennt in § 7 Abs. 3 BUrlG eine Bestimmung zur Übertragung des Urlaubs:
"(3) Der Urlaub muß im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muß der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen."
Demmach konnte - bei wörtlichem Verständnis - eine Übetragung des gesetzlichen Urlaubs stets nur bis zum 31.03. des Folgejahres verlangt werden. Alles andere bedurfte einer speziellen Rechtsgrundlage, etwa einer Abrede der Arbeitsvertragsparteien.
(Symbolbild)
Nach diesem Verständnis verfielen - auch bei Dauerkranken - Urlaubsansprüche jeweils zum 31.03 des Folgejahres. Ein "Ansammeln" über mehrere Jahre schied aus. Im Übrigen konnte mangels Wiedergenesung nicht einmal für den unverfallenen Zeitraum Urlaubsabgeltung bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis verlangt werden.
Diese Rechtsprechung hielt allerdings nicht den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) stand:
Dieser stellte zunächst in der Entscheidung vom 20.01.2009, C-350/06 u.a. - Schultz-Hoff - fest, dass einem Arbeitnehmer, der wegen Krankheit seinen Urlaub nicht nehmen konnte, dieser Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugelten ist. Wörtlich heisst es (Rdnrn. 43-45):
"Daraus folgt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 grundsätzlich einer nationalen Regelung, die für die Ausübung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums beinhalten, nicht entgegensteht, allerdings unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch auszuüben.
Festzustellen ist jedoch, dass einem Arbeitnehmer, der wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑350/06 im Jahr 2005 während des gesamten Bezugszeitraums und über den im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraum hinaus krankgeschrieben ist, zu keiner Zeit die Möglichkeit eröffnet wird, in den Genuss seines bezahlten Jahresurlaubs zu kommen.
Ließe man zu, dass die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, insbesondere die über die Festlegung des Übertragungszeitraums, unter den in der vorstehenden Randnummer beschriebenen besonderen Umständen einer Arbeitsunfähigkeit das Erlöschen des in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 garantierten Anspruchs des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub vorsehen können, ohne dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm durch diese Richtlinie gewährten Anspruch auszuüben, so würde dies bedeuten, dass diese Rechtsvorschriften das jedem Arbeitnehmer durch Art. 7 der genannten Richtlinie unmittelbar gewährte soziale Recht beeinträchtigten."
Zeitliche Grenzen für die Übertragbarkeit definierte der EuGH nicht. Hierfür bestand allerdings zunächst auch kein besonderer Anlass, da sich im entschiedenen Fall der Arbeitnehmer (nur) von Anfang September 2004 bis 30.09.2005, dem Datum der Beendingung des Arbeitsverhältnisses, im Zustand der Dauererkrankung befand. Ein größeres "Ansammeln" von aufgelaufenen Urlaubsansprüchen lag daher nicht vor,
Dies änderte sich allerdings in der weiteren EuGH-Entscheidung vom 22.11.2011, C-214/10 - KHS-. Diese nahm der EuGH dann zum Anlass, einer tarifvertraglichen Regelung, die zu einer Begrenzung des Übertragungszeitraums von 15 Monaten führte, keine europarechtlichen Bedenken entgegen zu bringen.
Die Entscheidung des BAG vom 07.08.2012 baute nun auf den beiden vorangegangenen EuGH-Entscheidungen auf und führte dies im deutschen Recht insoweit weiter, als das BAG auch bei Fehlen einer tarifvertraglichen Begrenzungsregelung das gesetzliche Urlaubsrecht im Sinne eines auf 15 Monate begrenzten Übertragungszeitraums interpretierte.
Wörtlich heisst es (BAG, aaO., Rdnr. 32):
"In Anwendung dieser Grundsätze ist § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG unions-rechtskonform so auszulegen, dass gesetzliche Urlaubsansprüche vor Ablauf eines Zeitraums von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war. Sie gehen jedoch mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres unter. Dies gilt auch bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit."
(Quelle: BAG, Urteil v. 07.08.2012, 9 AZR 353/10)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))
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