LAG Schleswig-Holstein, 20.05.2015 - 3 TaBV 35/14: Doch kein Maulkorb für Betriebsrat?
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein hatte sich in einem Beschluss vom 20.05.2015 mit Fragen der Geheimhaltungspflicht seitens eines Betriebsrats zu befassen.
Hintergrund der Entscheidung bildete die Bestimmung des § 79 Abs. 1 S. 1 BetrVG:
"Die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Betriebsrats sind verpflichtet, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen wegen ihrer Zugehörigkeit zum Betriebsrat bekannt geworden und vom Arbeitgeber ausdrücklich als geheimhaltungsbedürftig bezeichnet worden sind, nicht zu offenbaren und nicht zu verwerten."
Im entschiedenen Fall hatte die Arbeitgeberin, ein führendes Unternehmen der Pharmabranche mit über 1000 Arbeitnehmern, dem Betriebsrat eine geplante Betriebsänderung in Form eines Personalabbaus mitgeteilt.
Die Arbeitgeberin erklärte in diesem Zusammenhang erteilte Informationen ausdrücklich als geheimhaltungsbedürftig.
(Symbolbild)
Der Betriebsrat wandte sich nun in allgemeinerer Form an die Mitarbeiter. Insoweit heisst es im Beschluss des LAG:
"Am 04.09.2014 wandte sich der Betriebsrat unter dem Betreff 'geheim' an die Mitarbeiter und teilte mit, dass er über eine geplante mitbestimmungspflichtige Maßnahme im Diabetes-Außenbereich unterrichtet worden sei und der Arbeitgeber die mitgeteilten Informationen unter Strafandrohung als geheimhaltungspflichtig deklariert habe. 'Wir denken nicht, dass diese einschneidende Maßnahme der Geheimhaltungspflicht unterliegt und befinden uns gerade in anwaltlicher Klärung, denn wir möchten uns auch nicht dem Risiko einer fristlosen Kündigung und einem Jahr Gefängnis und möglicherweise Haftung in Millionenhöhe aussetzen.'“
In der Folge kam es zu diversen Presseberichten (möglicherweise zum Beispiel in Spiegel-Online am 05.09.2014: "Angeblicher Stellenabbau: ... verpasst Betriebsrat Maulkorb"); außerdem wechselten Anwaltsschreiben zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat.
Salopp formuliert: "Die Gerüchteküche brodelte."
Schließlich wandte sich der Betriebsrat an das Arbeitsgericht. Ein Antrag der Arbeitgeberin, dort die Öffentlichkeit im Verhandlungstermin auszuschließen, scheiterte. Nun erhielt die anwesende Presse Kenntnis vom geplanten Stellenabbau.
Die Arbeitgeberin informierte nunmehr auch die Belegschaft.
Hierzu heisst es im Urteil:
"Die Arbeitgeberin hält seit diesem Datum den Vorgang nicht mehr für geheimhaltungsbedürftig und meint, das Begehren des Betriebsrats habe sich dadurch erledigt."
Der Betriebsrat stellte (zuletzt) folgende Anträge:
"Der Antragssteller hat erstinstanzlich zuletzt nur noch beantragt,
festzustellen, dass der von der Arbeitgeberin mit Datum vom 29.08.2014 gegenüber dem Betriebsrat mitgeteilte geplante Personalabbau in der BU Diabetes von 285 FTE im Außendienst (Stand 29.08.2014) auf null FTE im Außendienst (Stand 01.11.2014) zum Zeitpunkt der Mitteilung am 29.08.2014 kein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis im Sinne des § 79 BetrVG war;
hilfsweise
festzustellen, dass der von der Arbeitgeberin mit Datum vom 29.08.2014 gegenüber dem Betriebsrat mitgeteilte geplante Personalabbau in der BU Diabetes von 285 FTE im Außendienst (Stand: 29.08.2014) auf null FTE im Außendienst (Stand 01.11.2014) zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung kein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis im Sinne des § 79 BetrVG ist."
Der Betriebsrat obsiegte erst- und zweitinstanzlich.
Das LAG führte insoweit unter anderem aus:
"Der dem Betriebsrat im Zusammenhang mit der Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan am 29.08.2014 mitgeteilte Personalabbau im Bereich Diabetes-Außendienst von 285 Beschäftigte auf Null war kein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis. [...] Verhandlungen über einen Interessenausgleich und diesen zugrunde liegende Planungen zur Personalreduzierung können nicht per se zu einem Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis im Sinne des § 79 BetrVG erklärt werden. Der Beschäftigungsabbau an sich und dessen Volumen ist in der Regel kein Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis. Etwas anderes gilt nur, wenn der Arbeitgeber ein konkretes sachliches und objektiv berechtigtes wirtschaftliches Interesse an der Geheimhaltung hat."
Und später:
"Der gesamte Gegenstand einer rechtzeitigen Unterrichtung im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 1 BetrVG über eine nach §§ 111, 112 BetrVG mitbestimmungspflichtige Maßnahme kann gegenüber dem Betriebsrat regelmäßig nicht pauschal zu einem Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis deklariert werden. Das gilt auch, wenn aus einer solchen Maßnahme später in der Umsetzung personelle Vorgänge wie Entlassungen und/oder Versetzungen entstehen. Der Vorgang an sich genießt keinen Geheimschutz. Ein grundsätzliches Verbot, 'Gegenstand, Verlauf und Ergebnis von Verhandlungen zu offenbaren', lässt sich nicht mit einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse eines Unternehmens begründen. Der Gegenstand von Verhandlungen kann nicht uneingeschränkt dem Verschwiegenheitsgebot unterworfen werden."
"Ein Arbeitgeber hat kein sachlich begründetes, objektiv berechtigtes Geheimhaltungsinteresse daran, dass ein Betriebsrat generell erst kommuniziert, wenn Entscheidungen 'konkret ausverhandelt sind', wie die Antragsgegnerin meint (Anlage 5, Bl. 31 d. A.). Ein Betriebsrat muss nicht vom Beginn der Unterrichtung im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 1 BetrVG bis zum Ende von Interessenausgleichsverhandlungen schweigen.Anderenfalls liefe das für den Betriebsrat generell geltende Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit bei Fallkonstellationen wie der vorliegenden, beabsichtigter betriebsändernder Personalabbau im Sinne der §§ 111 ff BetrVG leer. Zuden Aufgaben des Betriebsrats gehört es, im Rahmen seiner Zuständigkeit die Belegschaft umfassend und grundlegend zu informieren. Die Einhaltung der allgemeinen Überwachungspflichten nach § 75 BetrVG bzw. § 80 BetrVG verlangt zwingend, sich mit den von ihnen zu vertretenden Mitarbeitern auszutauschen. Auch die sachgerechte Wahrnehmung der Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte ist ohne einen Informations- und Meinungsaustausch zwischen Betriebsrat und Belegschaft nicht denkbar."
Das LAG zieht dann ausdrücklich folgende Schlussfolgerung (Hervorhebung nicht im Original):
"Ein Betriebsrat muss daher in der Regel ab Beginn der Unterrichtung über konkret geplante Betriebsänderungen mit seinen Wählern und den von ihm vertretenen Arbeitnehmern kommunizieren können, erst Recht wenn sie betroffen sind. Anderenfalls kann er seine Mitbestimmungsrechte nicht effektiv und sachgerecht ausüben."
Eine grundsätzlich mögliche Ausnahme sieht das LAG nur bei konkreter sachlich begründeter, objektiv berechtigter Geheimhaltungsbedürftigkeit, für die die Arbeitgeberin aber nichts dargelegt habe:
"Etwas anderes kann sich nur ergeben, wenn für die Arbeitgeberin ein konkretes sachlich begründetes, objektiv berechtigtes Geheimhaltungsinteresse tatsächlich besteht. Das ist hier nicht der Fall."
Die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht (BAG) wurde zugelassen.
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler)