OLG Frankfurt, 26.04.2017 - 2 Ss-Owi 295/17: Deutliche Worte des OLG im "Alsfelder Fall"
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG Frankfurt) hatte sich im Zuge einer Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 26.04.2017 mit einem freisprechenden Urteil des Amtsgerichts (AG) Alsfeld zu befassen.
I.
Im "Alsfelder Fall" war über einen Bußgeldbescheid gegen einen Betroffenen (Autofahrer) zu befinden, dem wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften im Juli 2015 um 38 km/h eine Geldbuße von 190,00 € sowie ein Fahrverbot von einem Monat auferlegt wurde.
Der Betroffene legte rechtzeitig Einspruch ein und wurde vom AG Alsfeld freigesprochen. Das Messergebnis sei nicht verwertbar. Die Messung sei unter bewusster und gewollter Umgehung von § 26 Abs. 1 StVG in Verbindung mit bestimmten ministeriellen Vorgaben von einem privaten Dienstleister durchgeführt worden.
§ 26 Abs. 1 StVG lautet:
"(1) Bei Ordnungswidrigkeiten nach den §§ 23 bis 24a und 24c ist Verwaltungsbehörde im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten die Behörde oder Dienststelle der Polizei, die von der Landesregierung durch Rechtsverordnung näher bestimmt wird. Die Landesregierung kann die Ermächtigung auf die zuständige oberste Landesbehörde übertragen."
Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltchaft zum OLG hatte - im Ergebnis - (vorläufigen) Erfolg.
Das AG sei zwar zu Recht von einem Beweiserhebungsverbot ausgegegangen, die (bisher) getroffenen Feststellungen würden aber nicht für ein Beweisverwertungsverbot ausreichen und auch dem OLG keine eigene Entscheidung ermöglichen.
Das Verfahren wurde also zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG Alsfeld, und zwar an die gleiche Abteilung, zurückverwiesen.
Nach Internet-Berichten soll das Verfahren im Übrigen später beim AG Alsfeld auf Kosten der Staatskasse eingestellt worden sein.
Das OLG begründete seinen Zurückverweisungsbeschluss äußerst umfangreich.
Dabei arbeitete das OLG zunächst die Verstöße im Rahmen der Beweiserhebung heraus.
Anschließend setzte es sich mit der Frage eines etwaigen Beweisverwertungsverbots auseinander.
Schließlich gab es dem AG noch umfangreiche Erwägungen für das weitere Verfahren auf dem Weg.
II. Zur Beweiserhebung
Das OLG stellt zunächst darauf ab, dass die
"Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten nach § 47 Abs. 1 OWiG [....] als typische Hoheitsaufgabe zum Kernbereich staatlicher Hoheitsausübung"
gehöre, bevor es auf zahlreiche Vorschriften hinweist, nach denen eine eigenverantwortliche Wahrnehmung dieser Aufgaben durch Privatpersonen grundsätzlich ausgeschlossen sei. Der Einsatz von Privatpersonen als technische Helfer könne aber zulässig sein:
"Dies schließt allerdings grundsätzlich nicht aus, dass die Verwaltungsbehörde sich technischer Hilfe durch Privatpersonenen bedient, solange sie Herrin des Verfahrens bleibt (st. Rspr. der OLGs; vgl. nur für alle: OLG Frankfurt v. 03.03.2016 - 2 Ss-OWi 1059/15; OLG Stuttgart v. 25.08.2016 - 4 Ss 577/16; OLG Hamm v. 18.04.2016 - III-2 RBs 40/16). Die Technische Hilfe von Privatpersonen muss einen sachlichen Grund haben, darf nicht missbräuchlich sein und vor allem nicht in Bereiche eingreifen, die ausschließlich dem Hoheitsträger vrbehalten sind."
Anschließend hebt das OLG hervor, dass im vorliegenden Fall insbesondere das Auslesen der Daten und das Sicherstellen der Daten nicht - wie gesetzlich verlangt - durch den Hoheitsträger erfolgte, sondern durch einen privaten Dienstleister. Bereits dies alleine würden einen Verstoß gegen die Beweiserhebung begründen.
Darüber hinaus lägen noch weitere, gravierende Verstöße vor:
Denn das Geschäftsmodell des rivaten Denstleisters stelle sich als ein
"sog. 'Rundum-Sorglospaket', bei der die Stadt [...] über die bloße Nutzung des Messgeräts hinaus nahezu vollständig die ihr gesetzlich auferlegten Pflichten auf den privaten Dienstleister übertragen habe",
dar. Und ausdrücklich:
"Damit das ganze Geschäftsmodell den Schein der Rechtsstaatlichkeit erhält, ist seit dem 01.08.2013 die Fiktion einer Arbeitnehmerüberlassung konstruiert worden."
Das OLG kritisiert deutlich, dass bei der im vorliegenden Fall von der Kommune gewählten Vorgehensweise
"das primäre Beweismittel, nämlich die digitalisierte Falldatei, aus der erst durch die Umwandlung das Messbild und die Messdaten, die den Vorwurf begründen, gewonnen wird, zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle des Hoheitsträgers"
stehe.
Dadurch komme es zu einem "Bruch der Beweismittelkette", der noch dadurch vertieft werde, dass nicht nur das "Einsammeln" und "Einspeisen der Daten", sondern auch die "Bildaufbereitung" durch den privaten Dienstleister erfolge.
Soweit die Daten später vom Dienstleister an die Stadt zur endgültigen Entscheidung über die Einleitung eines Ordnungswidrigkeiten verfahrens zurückübertragen würde, sei es im Übrigen "eher lebensfremd", auf Seiten des Hoheitsträgers von einer echten Überprüfung auszugehen:
"Dass die Fa. A GmbH anschließend die eingesammelten, umgewandelten und ausgewerteten Messdaten der Stadt O2 überlässt, damit diese nun 'selbstständig' darüber entscheidet, gegen wen sie ein Bußgeldverfahren einleiten will, ist nur geeignet, eine für die Betroffenen und die Gerichte täuschende Fassade für die vorhergehende Umgehung zu bilden.
Bei der gebotenen kritischen Betrachtung stellt sich nämlich schon die Frage, warum die Stadt O2 dieselbe Tätigkeit nochmals durchführen sollte, die schon der private Dienstleister (für sie) gemacht hat und für die er auch bezahlt wird. Aber selbst wenn die Stadt O2 tatsächlich, was eher lebensfremd ist, die ihr erst vom privaten Dienstleister übergebene Falldatei vor der Entscheidung über die Einleitung eines Bußgeldverfahrens nochmals umwandeln, auswerten und mit den Auswertungen des privaten Dienstleisters vergleichen würde, ist dadurch keine tragfähige Prüfung möglich. Selbst wenn die Stadt O2 täte, was sie behauptet, überprüft sie lediglich, ob die ihr von der Fa. A GmbH vorgelegten Daten mit den von der Fa. A GmbH ausgewerteten Messbildern übereinstimmen. Das ist gleichermaßen inhaltlich sinnlos wie rechtlich irrelevant."
Zusammenfassend seien daher die gewonnen Beweismittel fehlerhaft, weil sie nicht auf rechtsstaatliche Weise erzielt und bewertet wurden.
III. Zur Beweisverwertung
Das OLG führt aus, dass nach allgemeinen Grundsätzen allerdings nicht jedes Beweiserhebungsverbot auch zu einem Beweisverwertungsverbot führe. Dies müsse vielmehr in jedem Einzelfall entschieden werden.
Dabei bedürfe es vorliegend einer Abwägung verschiedener Interessen: Dem Individualinteresse des betroffenen Bürgers am Schutz seiner Rechtsgüter stünde das Allgemeininteresse an Tataufklärung gegenüber.
Die entsprechende Abwägung sei vom AG Alsfeld nur unzureichend vorgenommen worden.
Denn das verwendete Messgerät ermögliche aufgrund seiner digitalen Falldateien grundsätzlich die Rekonstruktion der Messung. Jede Manipulation der Falldateien sei nachweisbar. Die rechtsstaatliche Beweisführung sei daher im vorliegenden Fall nachholbar.
(Symbolbild)
IV. Erwägungen für das weitere Verfahren - Besorgnis des OLG
Das OLG ist allerdings an dieser Stelle mit seinen Ausführungen nicht stehengeblieben.
Vielmehr sieht sich das OLG anlässlich des vorliegenden Verfahrens und einer Reihe weiterer bußgeld- und zivilrechtlichen Verfahren im Bereich der Geschwindigkeitsmessuns ausdrücklich veranlasst, folgender
"Besorgnis"
unmissverständlichen Audruck zu geben:
"Die gesetzlichen Grundlagen für die Verkehrsüberwachung und die Zuweisung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind diesbezüglich eindeutig und lassen bei objektiver Betrachtung auch keine Spielräume zu. Gleichwohl geben die von den Gerichten in den oben genannten Verfahren ermittelten Sachverhalte Anlass zur Besorgnis, dass im Bereich kommunaler Verkehrsüberwachung diese eindeutigen gesetzlichen Grundlagen, ministerialen Erlasse und gerichtliche Entscheidungen nicht nur nicht mit der notwendigen Sorgfalt beachtet, sondern - wie im vorliegenden Fall - bewusst und gewollt umgangen werden. Die dabei zu Tage getretenen Konstruktionen lassen ebenfalls befürchten, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern um strukturelle Verwerfungen handelt, die nicht mehr wie bisher durch das Eingreifen gerichtlicher Entscheidungen korrigiert werden können, sondern der nachhaltigen Korrektur durch den Einsatz der innenministerialen polizeilichen Dienst- und Fachaufsicht bedürfen (vgl. auch Sachverhalt OLG Frankfurt, Urteil v. 07.04.2017 - 2 U 122/16 Rn. 29: Unter dem 'gemeinsam gewünschten Ziel' des Verkehrssicherungsprojekts ist jedenfalls auch das Erzielen finanzieller Erträge zu verstehen, die aus dokumentierten Fällen von Geschwindigkeitsübertretungen resultieren)."
Das OLG unterscheidet im Einzelnen drei Problemfelder:
1.
Hinsichtlich der Motivlage weist das OLG ausdrücklich darauf hin, dass Verkehrsüberwachung (allein) der Verkehrssicherheit diene:
"Jegliche Verknüpfung der Verkehrsüberwachung mit anderen nicht gesetzgeberisch legitimierten Gründen ist unzulässig."
Insbesondere sei sicherzustellen, dass bei der Aufstellung stationärer, kommunaler Messanlagen Interessenkollisionen durch geeignete Maßnahmen, wie zum Beispiel der verbindlichen Prüfung des Messstandorts einer stationären Messanlage durch die derzeit zuständige Polizeiakademie Hessen, unterbunden werden.
Insofern ist auf die hessische Verwaltungsvorschrift "Verkehrsüberwachung durch örtliche Ordnungsbehörden und Polizeibehörde" vom 06.01.2006 des Hessischen Ministeriums des Innern, Staatsanzeiger 2006, S. 268 ff. hinzuweisen, wo es unter Punkt 4.1. am Ende heißt:
"Zur Einrichtung ortsfester Messstellen ist die Hessische Polizeischule anzuhören."
2.
Außerdem müsse die hoheitliche Herrschaft über die Beweisermittlung und Beweisführung gewahrt bleiben.
Soweit durch den Gesetzgeber die Hinzuziehung von Privatpersonen gestattet ist, seien deren Tätigkeiten auf reine Assistenztätigkeiten beschränkt.
Die Ordnungsbehöre müsse Herrin des Messgeräts sein.
Jegliche Einflussnahme eines etwaigen privaten Eigentümers auf die Verwendung des Messgeräts, namentlich Zeit, Ort und Umfang der Messung, müsse ausgeschlossen sein:
"Schon die Verknüpfung der Bezahlung des Messgeräts durch die erzielten Bußgelder ist dabei bedenklich, da damit bereits eine direkte Verknüpfung des wirtschaftlichen Erfolges des 'Verleihers' mit dem Einsatz des Messgeräts erzeugt wird. Dass dies nicht nur eine bloße Befürchtung ist, zeigt das Urteil vom 07.04.2017 (OLG Frankfurt 2 U 122/16). Die Vertragskonstruktion beinhaltete ein Kündigungsrecht des Überlassungsvertrages durch die Verleiher für den Fall nicht ausreichender Rendite. Damit wirkt der Verleiher direkt (durch Kündigung) oder indirekt (durch Drohung mit Kündigung) auf die Entscheidung des Hoheitsträgers über die Verwendung des 'überlassenen' Messgeräts ein."
Ferner müsse die Ordnungsbehörde auch Herrin der durch die Messanlage gewonnenen Beweismittel sein:
"Das heißt konkret, die Gewinnung des Beweismittels (i.d.R. die digitalen Messrohdaten bzw. Falldateien, in die sie auf Antrag des Betroffenen auch Einsicht zu gewähren hat) muss durch die Ordnungsbehörde selbst erfolgen. Nur so kann sie die Authentizität der Daten garantieren. Da die digitalen Messrohdaten bzw. Falldateien bei der Ordnungsbehörde verbleiben und in die Verfahrensakte nur die lesbare Form, das heißt, das daraus gewonnene Messbild und die Messdaten Eingang finden, muss sie desweiteren im ununterbrochenen Besitz dieser digitalen Messrohdaten bzw. Falldateien sein."
Schließlich müsse die Ordnungsbehörde die Umwandlung und Auswertung der Beweismittel selbst durchführen. Insbesondere bei der Auswertung der Daten sei eine Hinzuziehung von privaten Dienstleistern kraft Gesetzes ausgeschlossen:
"Nach der Umwandlung schließt sich die Auswertung der so gewonnenen Messdaten an. Diese hat in der von der PTB vorgegebenen Art und Weise ebenfalls ausschließlich durch die Ordnungsbehörde zu erfolgen. Hier ist eine Hinzuziehung von privaten Dienstleistern kraft Gesetz ausgeschlossen. Gem. §§ 1, 3, 65 OWiG hat die zuständige Ordnungsbehörde und nicht ein privater Dienstleister mit erfolgsabhängiger Bezahlung zu entscheiden, ob überhaupt eine Ordnungswidrigkeit gegeben ist. Für die auch vorliegend gegebene vereinbarte Vorselektion durch private Dienstleister (oder auch 'Vorauswertung') ist insoweit kein Raum. Die Hinzuziehung privater technischer Hilfe ist auf die Bereiche beschränkt, in denen der Hoheitsträger keine ihm ausschließlich zugewiesene hoheitliche Aufgabe wahrnimmt."
3.
Abschließend weist das OLG unter anderem darauf hin, dass das Gericht grundsätzlich davon ausgehen könne und müsse, dass sich die Ordnungsbehörden gesetzeskonform verhielten. Es bedürfe daher keine Ermittlung ins Blaue hinein. Vielmehr müsse der Betroffene konkrete Zweifel in das Verfahren einbringen.
(Quelle: OLG Frankfurt a.M., Beschluss v. 26.04.2017, 2 Ss-Owi 295/17)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))